Hannover. Die Sozialpolitik in Schieflage, der Bundeshaushaltsentwurf fernab einer Besserung: Es sei nun „genau der richtige Zeitpunkt, mit der Landespolitik im Rahmen der finalen Etatberatungen zum Haushalt 2024 in Niedersachsen im Gespräch zu bleiben“, so Thore Wintermann, Geschäftsführer der AWO Niedersachsen LAG. Im Alten Rathaus Hannover nutzte die Wohlfahrtsorganisation bei einem Parlamentarischen Abend den Moment, um mit gewichtigen Argumenten noch für ein Umdenken in der „sozialpolitisch aktuell hochbedenklichen Entwicklung“ zu sorgen.
Selbst Michael Groß, Präsidiumsvorsitzender des AWO Bundesverbandes und Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, war gen Hannover gereist, um den Finger tief in die angesichts des Bundeshaushaltsentwurfs gerissene Wunde zu drücken. „Uns allen war klar, dass das ein schwieriges Haushaltsjahr wird. Und trotzdem: Der vorgelegte Haushaltsentwurf hat uns alle bis ins Mark erschüttert.“ Groß sprach vor den Vertretungen der Landespolitik von den enormen Sparanstrengungen, denen die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege schon jetzt ohne Kürzungen ausgesetzt seien. „Ich will keine Horrorszenarien an die Wand werfen, aber die Situation ist wirklich bedrohlich. Bislang war die Freie Wohlfahrtspflege Garant der sozialen Infrastruktur und Stabilisator in den letzten Krisen, der Kitt der Gesellschaft. Diese Rolle ist definitiv gefährdet.“ Er rief die Politik auf, in die Einrichtungen zu kommen, sich vor Ort bei den angesichts mangelnder Unterstützung und immer weiteren Aufgaben erschöpften Kräften zu informieren. Denn: „Diese Menschen so alleine zu lassen, ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.“ Die Politikerinnen und Politiker sollten daher für eine Umkehr „alle Wege nutzen, die Sie haben – in ihren Parteien und Parlamenten, im Landtag und Bundesrat“.
„Demokratie verteidigen!“
Mehr noch. Die Nachwehen der Corona-Pandemie, der Krieg gegen die Ukraine sowie die daraus resultierende inflationäre Entwicklung belasten nicht nur die Haushaltspolitik. Die langfristig wirkenden Herausforderungen wie der Klimawandel oder die fortschreitende Überalterung wiegen gesamtgesellschaftlich schwer. All diese Faktoren steigern die Bedarfe der Bevölkerung an sozialen Diensten; auch Hilfen wie Beratungsleistungen für Familien – insbesondere für Kinder und Jugendliche, die durch die Corona-Krise unter vielfältigen Belastungen litten und leiden – sind gefragt wie nie zuvor. Heilpädagogische Einrichtungen, Drogenberatungsstellen, Sprachheilkindergärten und -zentren, Mutter-Kind-Kliniken, stationäre Jugendhilfeangebote und viele weitere Einrichtungen und Dienste melden da Wartelisten und besorgniserregende Entwicklungen, die wiederum auf die Stimmung und einseitig auf das gesamtgesellschaftliche Gleichgewicht drücken. Kurzum: „Wer die Demokratie verteidigen will, muss Ehrenamt, politische Bildung und Freiwilligenarbeit stärken und darf nicht kürzen“, so Dr. Harald Groth, Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft und Präsidiumsvorsitzender des AWO Bezirksverbandes Weser-Ems. Er überbrachte dem Parlament gleichwohl Dank für das vor Ort gute Miteinander und die inhaltlich wohlwollende Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und tatsächlichen Problemen in der Fläche.
„Beim Erhalt des Status Quo handelt es sich um reale Einbußen“
Um die soziale Infrastruktur halbwegs abzusichern und gesellschaftlich bedeutende Pflöcke im Sinne einer zukunftsgerichteten Sozialpolitik einzuschlagen, fordert die AWO Niedersachsen daher unter anderem eine insgesamt volle Berücksichtigung der tariflichen Entwicklungen für die Refinanzierung sozialer Dienstleistungen, die Steigerung der Kapazitäten für Migrationsdienste, mit Blick auf den Fachkräftemangel die Attraktivierung der Zugänge und grundsätzlichen Arbeit in Kitas, aber auch eine mittelfristige Strategie, die Investitionszuschüsse des Landes im Bereich stationäre Pflege wiedereinzuführen.
In vielen Bereichen trägt der Landeshaushalt dieser Entwicklung bereits Rechnung, indem einige Segmente der sozialen Refinanzierung stabil gehalten werden und signifikante Kürzungen, anders als auf der Bundesebene, nicht geplant sind. „Das ist zunächst zu begrüßen“, so Thore Wintermann, „dennoch muss allen Beteiligten klar sein, dass es sich auch beim Erhalt des Status Quo um reale Einbußen handelt, da die massiven Kostensteigerungen in nahezu allen Lebensbereichen nicht aufgefangen werden. Vom notwendigen Ausbau der sozialen Infrastruktur kann da erst recht nicht die Rede sein“.
„Gerade in schwierigen Zeiten wie diesen braucht es eines starken und handlungsfähigen Sozialstaates“
Die Dramatik dieser Pläne ergibt sich aus der Struktur der größten Anbieter sozialer Dienste – der Freien Wohlfahrtspflege, die in Niedersachsen etwa 6.000 soziale Einrichtungen, Beratungsstellen und Dienste mit mehr als 230.000 hauptamtlich Beschäftigten und über 500.000 ehrenamtlich Mitarbeitenden repräsentiert. Diese Träger sind qua der Rahmenbedingungen der Gemeinnützigkeit nicht in der Lage, in großem Umfang Rücklagen zu bilden oder Quersubventionen zu tätigen, um wirtschaftliche Notlagen über eine längere Zeit durchhalten zu können. Die momentane tarifliche Entwicklung sowie die Entwicklung der Preise für Sach- und Verbrauchsgüter ist eine solche wirtschaftliche Notlage, wenn sie nicht adäquat durch die Kostenträger mitgetragen wird.
Marcus Bosse, Vizepräsident des Niedersächsischen Landtags, anerkannte, dass sich „die AWO auf Landes- und Bundesebene einmischt, dass sie eine soziale Organisation ist, die Verantwortung für die aktive Gestaltung“ eines sozial gerechten und solidarischen Gemeinwesens übernehme, Ungleichheiten zu überwinden sucht. Dass sie dabei zugleich eine der größten Arbeitgeberinnen in Niedersachsen ist, stellte er ebenso heraus.
Sozialminister Dr. Andreas Philippi nahm den Ball gerne auf und versprach weitere Anstrengungen, ob nun in Bürokratieabbau oder Digitalisierung. Auch zur Überlegung, migrierte Menschen schneller in Arbeit zu bringen, „ohne eventuell darauf achten zu müssen, dass sämtliche Curricula erfüllt sind“, habe man einige Ideen, die weiterentwickelt würden. Philippi unterstrich: „Gerade in schwierigen Zeiten wie diesen braucht es eines starken und handlungsfähigen Sozialstaates“, ergänzte angesichts der Haushaltslage aber auch: „Nicht alles, was wünschenswert ist, lässt sich auch realisieren.“
Zum Hintergrund
Die AWO Niedersachsen hat in den vergangenen Monaten bereits auf verschiedenen öffentlichkeitswirksamen Wegen – und so auch über Einladungen an die Politik in von Sparmaßnahmen betroffene Einrichtungen und Strukturen – deutlich gemacht, welch schwerwiegende Folgen die angedrohten Kürzungen im Etat haben werden. Zudem läuft aktuell die Infokampagne „Die Letzte macht das Licht aus“ des AWO Bundes zum Sparhaushalt. Mehr unter https://awo.org/kampagnen/licht-aus
Finale Haushaltsberatungen: Die letzten Entscheidungen werden voraussichtlich am Donnerstag, 16. November, in der sogenannten „Bereinigungssitzung“ im Haushaltsausschuss getroffen. Die viertägige zweite Beratung des Haushalts im Plenum soll in der Sitzungswoche vom 28. November bis 1. Dezember stattfinden. Die Fraktionen haben die Möglichkeit, während der zweiten Beratung ihre Änderungsanträge zum Haushaltsgesetz insgesamt oder zu den Einzelplänen einzubringen, über die direkt im Anschluss an die jeweilige Debatte abgestimmt wird. Die dritte Lesung und Verabschiedung des Haushalts ist für Freitag, 1. Dezember, vorgesehen.